Feuerroter Abschied
Einen Schrei unterdrückend fuhr Eowyn aus dem einfachen Feldbett empor, das ihrer Schwester Imogen und ihr nach ihrer tagelangen Flucht vor den Schattenwesen, die alle nur angsterfüllt die Shadar-Kai nannten, von einem Halbelfen der elfischen Grenzstadt Rhunath im Wipfel einer alten Eiche notdürftig aufgestellt wurde. Schweißgebadet tastete sie nach ihrem Dolch, der seit etwas mehr als einer Woche plötzlich zu ihrem wichtigsten Besitz geworden war. Imogen, die direkt neben ihr lag, tastete verschlafen nach ihrem Schwert, wälzte sich auf die andere Seite und begann leise zu schnarchen.
Vor zehn Tagen hatte sich das Leben der beiden Zwillinge mit einem Paukenschlag verändert. Die Elfen befanden sich auf dem Heimweg von einem ihrer regelmäßigen, unangemeldeten nächtlichen Ausflüge durch den Wald an den Kranichfällen, als sie kurz vor ihrer Rückkehr ein seltsames Leuchten zwischen den Bäumen entdeckten. Zuerst war da nur ein rotes Glühen, was sich aber nach wenigen weiteren Wegminuten als tödlich heißes Flammenmeer entpuppen sollte. Von Vennaith, was einst ihr lieb gewonnenes Dorf gewesen war, würde es wohl ohne Gegenwehr nur schwarz verkohlte Baumstümpfe und Asche übrig lassen. Jedoch war an ein Löschen der Feuerwalze nicht einmal im Ansatz zu denken, da den Elfen schon nach wenigen Augenblicken klar wurde, dass dies kein schreckliches Unglück, sondern ein heimtückischer Anschlag schattenhafter Gestalten gewesen sein musste.
In allen Richtungen, in die sich Elfen in Sicherheit bringen wollten, standen dunkle Gestalten, die die vor den Flammen fliehenden Bewohner kaltblütig und hinterhältig niedermetzelten. Es schien gerade so, als durften keine Überlebenden von dieser Tat berichten können. Dieser Eindruck verstärkte sich, als eine der Gestalten aufschrie und in Richtung der beiden Elfen zeigte, woraufhin sich sofort mehrere Schatten von nahe gelegenen Bäumen lösten. Imogen wusste instinktiv, dass sie nur überleben würde, wenn sie zuerst tötete, und zögerte keine Sekunde mit ihrem Schlag gegen das am nächsten stehende Schattenwesen. Mit einem dumpfen Ton sackte der getroffene zusammen, aber die nächsten Gegner waren geschickter. Schneller als die beiden Elfen reagieren konnten, blitzten Klingen auf und streckten Imogen nieder. Eowyn zog ihren Dolch und stieß mit dem Mut der Verzweiflung mehrmals nach den seltsamen Wesen. Als diese überrascht für einen Moment zurückwichen, gelang es ihr, ihre bewusstlose Schwester, die eine klaffende Kopfwunde davon getragen hatte, aus der unmittelbaren Gefahrenzone zu ziehen und etwa 100 Meter einen Abhang hinab zu rollen. Eowyn stürzte sich mutig hinterher, um am Fuß der Schlucht in den kühlen Wassern des Kranichflusses mit einer Hand einen Baumstamm, mit der anderen ihre Schwester festhaltend, Land zu gewinnen.
Als sie nach gefühlten Stunden im Fluss sich und ihre Schwester mit letzter Kraft aus dem Wasser gezogen hatte, hatte sie die Orientierung komplett verloren. Wahrscheinlich waren sie bis ins Menschengebiet vorgedrungen und die Holzhütte, in der sie sich mit Imogen für ein paar Stunden ausruhte, war nur aufgrund der Jahreszeit nicht von einem Jäger oder Holzfäller bewohnt. Immerhin bekam sie gerade genug Zeit und Ruhe, um sich an einen uralten Sprechgesang zu erinnern, der durch viele Generationen überliefert und ihr schließlich durch ihre Mutter gelehrt worden war. Durch die betont langsam in antikem Elfisch ausgesprochenen Silben gerieten Haut und Blut der verletzten Elfe in magische Schwingungen und nach nicht einmal einer Minute schloss sich Imogens Wunde. Eine lange Narbe zierte von da an ihr Gesicht.
An die folgenden Tage erinnerte sich Eowyn nicht mehr so genau. Die wieder genesene Imogen hatte die Führung übernommen und ließ die Verfolger, gegenüber denen sie durch ihre vielen Ausflüge in die Natur als Kind spürbare Vorteile in der ihr vertrauten Umgebung hatte, ein ums andere Mal ins Leere laufen. Mit dem nötigen Quäntchen Glück fanden die beiden nach über einer Woche Flucht durch die Elfenwälder komplett ausgemergelt am Ende ihrer Kräfte in Rhunath Hilfe.
Nun war Eowyn, geplagt von Alpträumen, schon zum dritten Mal aus ihrem nervösen Schlaf erwacht, vergewisserte sich erneut, dass ihr Dolch noch unter dem Kopfkissen lag und dankte und gedachte im Stillen ihrer Eltern, die ihren Kindern all das, was sie in den vergangen Tagen zum Überleben gebraucht hatten, beigebracht hatten, noch bevor sie vor etwa zehn Jahren selbst auf mysteriöse Weise verschwunden waren. Damals lebten Imogen und Eowyn noch weit im Norden in der Nähe von Scanlonith. Da, wo der dichte Wald langsam lichter wurde, weil ihm das im Norden gelegene Diamantgebirge lebensnotwendigen Regen vorenthielt sowie das schroff ansteigende Gelände den Bäumen eine klare Höhengrenze setzte.
Mor-Elath, das kleine Städtchen aus dem die Zwillinge stammten, war und ist bis übers ganze Elfenkönigreich Ganiedii und dessen Ost- und Westprovinzen Ryanai und Amenai hinaus für seine kunstvollen und von Hand gefertigten Langschwerter und Langbögen bekannt, mit denen über lange Jahre hinweg lukrativer Handel mit den Bergzwergen im Nordosten sowie einigen menschlichen Händlern aus dem entfernten Süden getrieben wurde.
Elinar, der Vater der Geschwister, war Hauptmann und Anführer der im Grenzgebiet essentiellen Wachen der Stadt, während seine diplomatisch geübte Frau Imalaya die winzige Stadt, in der nur ein paar Tausend Elfen wohnten, politisch gegenüber den umliegenden Akteuren vertrat. Während Eowyn viel Zeit mit ihrer Mutter verbrachte und von ihr in Sangeskünste und die Diplomatie eingeführt wurde, eiferte Imogen stärker ihrem Vater nach und stahl sich oft von ihren Pflichten davon, um mit ihm in den Wäldern auf die Jagd zu gehen. Natürlich waren beide Mädchen schon in ihren für Elfen jungen Jahren bestens mit Schwert und Langbogen geübt, aber Imogen war schon immer einen Hauch geschickter, Eowyn dafür gebildeter und eloquenter.
Als vor etwa zehn Jahren verschwundene Reisende, dabei vermutlich auch einer der Händler aus dem Süden, der Mor-Elath zuvor regelmäßig besucht hatte, zu beklagen waren, sowie aus benachbarten Städten Gerüchte über nicht zurückkehrende Jäger die Runde machten, beschlossen Männer um Elinar, diesen Vorkommnissen nachzugehen. Sie formierten eine schlagkräftige Gruppe, die, angeführt von Imalaya und Elinar, auszog, aber ebenfalls auf Nimmerwiedersehen verschwand. Spuren, die man Tage später fand, deuteten auf einen Kampf hin, der durch Wesen, die mit Klauen bewaffnet waren, entschieden wurde und aufgrund zurückgelassener Besitztümer des Elfenehepaars Elinar und Imalaya nur an die grausamste aller Erklärungen für deren Verschwinden denken ließ.
In den darauf folgenden Wochen und Monaten wurden die Besuche der handelnden Zwerge deutlich seltener. Einer der letzten Besucher aus dem Diamantgebirge murmelte etwas von einem Grauen aus der Unterwelt, weshalb sich die Zwerge immer stärker zurückzogen und in ihren Bergfestungen einmauerten. Mit dem Erliegen dieses Handels und den ebenfalls seltener gewordenen Besuchen von Händlern aus dem Süden, brach in der florierenden Stadt Mor-Elath Panik aus und die Waisen Imogen und Eowyn, die noch nicht die nötige Lebenserfahrung hatten, um in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten, wurden gezwungen, ihr Glück in der Ferne zu suchen und eine neue Heimat aufzusuchen. Als diese Entscheidung getroffen war, begaben sie sich nach Britathi, die Hauptstadt des Königreiches, um sich einer reisenden Karawane anzuschließen. Doch das Schicksal war ihnen nicht gewogen, denn der frühe Herbst hatte viele Karawanen Schutz vor dem nahen Winter suchen lassen und keine ließ sich blicken, die auch nur ungefähr in die richtige Richtung unterwegs war, so dass sie am Ende eine ganz andere Lösung akzeptieren mussten.
Gestatten: Zurgin
Diese erschien – beziehungsweise machte sich durch allerlei klimpernde Gerätschaften zuallererst einmal akustisch bemerkbar – in Gestalt eines Gnoms namens Zurgin Ceramiel Tuppin Rolly Mercurius der II., einem ganz und gar exzentrischen Burschen, der sich selbst als den „Entdecker der Theorie rechter Harmonie der Sphären“ bezeichnete. Zurgin war ursprünglich in den Norden gereist, um Materialien zu finden, die die rechten Schwingungen von sich geben und ließ sich, als er Imogens Schwert erblickt hatte, nicht mehr davon abbringen, ihr solange in den Ohren zu liegen, bis er es mit seinem Hammer abklopfen und mit seinem Hörrohr nach dem erzeugten Ton lauschen durfte. Da er selbst mit einer kleinen Truppe Söldner reiste und unbedingt die Harmonie des Schwertklangs hören wollte, bot er als Gegenleistung an, die beiden Elfen ein großes Stück mit nach Süden zu nehmen, was die beiden Schwestern natürlich gerne annahmen. Als er den Hammer zurückzog und zu lauschen begann, änderte sich sein Gesichtsausdruck von neugierig über bass erstaunt bis zu einem seligen Lächeln, denn er hatte dem Metall einen Klang entlockt, den er noch nie zuvor gehört hatte und freute sich schon auf die kommenden Wochen, wo er noch viel über dieses Metall zu erfahren gedachte, während er mit den beiden Elfen reiste.
Die Reise verlief jedoch nicht, wie sich Zurgin das vorgestellt hatte, denn ganz besonders Imogen war oft als Späher weg und der Gnom hatte noch nicht einmal elf seiner achtunddreißigeinhalb Klangerzeugungswerkzeuge an ihrem Schwert getestet, als sich nach dem Durchqueren von Cinaedi in Anraii die Wege der ungleichen Reisenden schon wieder trennen sollten. So gern Zurgin die Elfen begleitet hätte, sein Ziel war Cammere, das Königreich der Menschen im Süden, und Dremi, was noch zwischen Anraii und Anwirae, dem Ziel von Imogen und Eowyn, lag, duldete keine anderen Rassen als Elfen auf dessen Hoheitsgebiet, so dass er durch diesen Umweg durch die Sackgasse in Anbetracht des drohenden Winters vielleicht noch in Elfengebiet gestrandet wäre. Daher ließ er die Elfen zähneknirschend, aber nicht ohne Stolz, wenigstens ein kleines Puzzlestück seiner Theorie gefunden zu haben, ihrer Wege ziehen. Als Imogen und Eowyn den kauzigen Gnom verlassen hatten, übernahm Imogen die Führung. Sie hatte von den Söldnern nochmals ein paar Tricks gelernt und brachte sich und ihre Schwester ohne weitere Zwischenfälle bis nach Syldreathi, der erst kürzlich gegründeten Hauptstadt von Dremi, wo sie sich mit ihrer Cousine Liasanya treffen wollten, die dort seit ein paar Jahren ein unkonventionelles Leben in der riesigen Elfencity führt.
Vor etwa acht Jahren hatte sich Dremi von Andremirae abgespalten, als ein Streit über die Thronfolge zu einem Blutbad geführt hatte. Brettais Eilís, der Bezirksverwalter im Norden des ehemals großen Landes, hatte durch seine geschickte Diplomatie gegenüber den benachbarten Elfenstaaten eine prosperierende Wirtschaft geschaffen und die Elfen im heutigen Dremi, die durch den wirtschaftlichen Erfolg den Stolz auf die Errungenschaften ihrer Rasse in den vollsten Zügen ausleben konnten, dankten es ihm durch große Loyalität. Der südliche Landesteil, der nach Osten ans Reich der Menschen und nach Süden hin an die Wildnis am Rand der Elfenreiche grenzte, war bei weitem nicht so gut aufgestellt und daher wirtschaftlich stark vom Norden abhängig. Als nun der Thron von Andremirae nach über 200 Jahren an Königin Larkinae Cadan übergeben werden sollte, kam es zum besagten Streit, da Brettais aufgrund seiner unbestrittenen Verdienste Ansprüche auf den Thron angemeldet hatte, aber seine Abstammung vom königlichen Haus, die er natürlich behauptete, nirgends offiziell in der Geschichtsschreibung belegt war. Der Staatsstreich, bei dem der alte König zu Tode kam, misslang zwar, aber im Chaos der folgenden Tage gelang es der Gruppe um Brettais Eilís den nördlichen Bezirk zu einem autonomen Königreich zu erklären. Seit dieser Zeit nennt sich das Königreich im Süden Anwirae, ist aber ohne die wirtschaftlichen Hilfen aus dem Norden nur noch ein Schatten vergangener Tage.
Trotzdem oder gerade deshalb waren die Elfen in Anwirae nach wie vor die gastfreundlichsten Geschöpfe, die der große Elfenwald jemals gesehen hatte. Cousine Liasanya stammte tatsächlich aus dem Dörfchen Vennaith im Süden, wo auch immer noch ihre Eltern lebten. Dort war auch sie seit der Teilung des Reiches nicht mehr gewesen und erklärte sich daher sofort bereit, die Zwillinge dorthin zu begleiten. Ihre Geschäfte in Syldreathi würden sicher einige Zeit ohne sie auskommen. Die drei Elfen hatten sich natürlich auch eine Menge zu erzählen, das letzte Mal als sie sich vor mehr als 30 Jahren trafen, waren sie ja noch Kinder gewesen, die von der Welt, die auf ihre Weise das Erwachsen werden der drei Elfen gewaltig beschleunigt hatte, nicht wirklich etwas begriffen. So verging die Reise wie im Flug und Imogen und Eowyn trafen wohlbehalten in Vennaith ein. Nach einer eher verhaltenen Begrüßung von Liasanya durch ihre Eltern war allen schnell klar, dass sich die junge Elfe aus der Stadt nicht mehr an das Landleben gewöhnen würde und mit ihren Eltern auch nicht mehr auf einer Wellenlänge lag, so dass sie sich noch am selben Tag freundlich, aber bestimmt wieder verabschiedete und die Heimreise antrat. Die Eltern hatten ihrer einzigen Tochter offensichtlich nie verziehen, dass sie sich vom Norden mit seinen Reichtümern hatte locken lassen, nahmen dafür aber Imogen und Eowyn umso herzlicher bei sich auf. Die Zwillinge durften das geräumige Zimmer von Liasanya zu dem ihrigen machen und waren sich schon nach kurzer Zeit sicher, endlich ihre neue Heimat gefunden zu haben.
Bis die Schatten kamen und das Feuer legten.
Xander d’Amberville ex Averoigne
In einem fernen Land lag dereinst ein Königreich mit einer kleinen Provinz namens Averoigne, schützend umgeben von Bergketten auf drei Seiten, und von Wasser auf der vierten. Der Provinz und dem Reich ging es gut, und sie war in regen Handel mit anderen eingebunden.
Das Königreich wurde das Silberne Reich genannt. Die Herrscher, das Königspaar Henri und Catherine d`Amberville (von Bernstein) residierte in Averoignes Hauptstadt Junt, direkt am Meer. Die d`Ambervilles mit ihren in sämtliche Windrichtungen verstreuten Angehörigen galten zeitlebens als recht exzentrische Familie. Es begab sich, dass dem Herrscherpaar ein Erbe, Tondar, geboren wurde und einige Jahre später nochmals Zwillinge – Xander Maël Luc d`Amberville, und die nur wenige Augenblicke jüngere Geneviève Adaliz Yvette d`Amberville.
Tondar d`Amberville würde die Verantwortung für das Land erben, und die besten Lehrer unterrichteten ihn in Diplomatie, Geschichte, Konversation, Taktik und Kampfkunst. Seine jüngeren Geschwister, neugierig, wie Geschwister nun mal sind, kamen auch bald dazu. Und so wie Tondar beide Füße fest auf dem Boden hatte, so fegten die Zwillinge wie ein Wirbelwind durch die Burg, bisweilen mit Schalk in den Augen. Wo sich Talent und Disziplin des großen Bruders in den täglichen Studien zeigten, da rutschten die beiden spätestens bei der Lehre der Flaggenkunde auf ihren Stühlen herum. Sie studierten lieber Schmetterlinge im Garten, versuchten aus stibitztem Süßkram Pflanzen zu ziehen, oder erweiterten ihre Sammlung an wundersamen Kieselsteinen und anderen Schätzen. Die beiden Blondschöpfe schlossen sich auch oft der Rasselbande an Stadtkindern an, oder halfen in den Ställen. Dabei hatten sie ein Herz für jedes und jeden, sie brachten alles mit was sich am Wegrand und im Wald fand: Flügelkranke Vögel, junge Eichhörnchen und Katzen. Bald folgte ihnen sogar ein pechschwarzer Welpe überallhin. Der weise und besonnene Tondar wurde ebenso geschätzt wie seine Geschwister und man war sich allgemein einig, dass das Reich mit allen dreien ein großes Glück hatte und die Zeit der grausamen Geschichten, die das Land lange in Angst und Schrecken gehalten hatten, endlich der Vergangenheit angehörten. Mit der Zeit wurde Tondar immer mehr in die Lenkung des Reiches eingebunden. Nach außen hin trafen seine Eltern die Entscheidungen, doch Tondar wurde sachte einbezogen. Man entschied sich, auch den Zwillingen öffentliche Aufgaben zuzuweisen: Protokoll und Begrüßung der Gäste. Die beiden gingen ihre Aufgabe mit Enthusiasmus an, und führten immer wieder Neues ein. Besonders in Erinnerung blieben Perlen wie die winterliche Wanderung auf einen Berg und der Fackelzug nachts mit Schneeschuhen den Berg hinunter, oder auch das Seerosenfest bei Morgengrauen auf Flößen.
Schließlich entschied das Herrscherpaar abzudanken, zugunsten des Nachfolgers Tondar. Der Bischof von Ximes, der Lathander, den Herrn des Morgens, den einzig wahren Gott der Welt, befragt hatte, bestimmte den besten Zeitpunkt zum Übergang des Reiches. Einladungen wurden verschickt, und die Küche bereitete sich auf ein Festmahl sonders gleichen vor. Aus allen Ecken und Enden des Landes strömten die Adligen, insbesondere natürlich weitere Familienmitglieder der d’Ambervilles, wie Marie Helene d’Amberville, die Cousine der Königin. Oder Richard „Cœur de Lion d’Amberville“, der Graf der nördlichen Provinzen, der sich freute, seine Schwester Isabelle d’Amberville und ihren Cousin Wilhelm d’Amberville nach Jahren der Trennung einmal wieder zu begegnen. Simon und Claude d’Amberville aus den Ostprovinzen hatten sich genauso angekündigt wie Gerard de l`Automne, ein über alle Grenzen hinweg bekannter Troubadour. Es war das gesellschaftliche Ereignis des Jahrzehnts, um zu sehen und gesehen zu werden. Am Tag der Abdankung brummte die Burg Bernstein (das Chateau d’Amberville) und ganz Junt. Bis zum letzten Stallburschen war jeder herausgeputzt. Die Zwillinge waren überall gleichzeitig. Im Hauptsaal der Burg dankte man dem alten Herrscherpaar, während der baldig neue Herrscher bescheiden daneben stand – an seinem letzten Tag als Prinz.
Traditionell beendeten kurz vor Mitternacht Glockenschläge und Kanonenschüsse den Tag des Dankes. Lichter wurden gelöscht. Erwartungsvolle Stille senkte sich über die Anwesenden. In einer letzten Amtshandlung legte das Herrscherpaar die Zeichen seiner Herrschaft ab, und die Zeit der Dunkelheit war angebrochen. Das Reich war allein gelassen. Schweigend machte sich Prinz Tondar auf, hinunter zum Hafen. Jeder nickte ihm respektvoll zu, und zog sich dann zurück, um in den Fenstern der Häuser Kerzen zu entzünden. Diese leuchteten dem Prinzen und gaben ihm Geleit, denn um Mitternacht segelte er hinaus, ganz allein auf das Meer. Traditionell stellte sich der neue Herrscher da draußen der Dunkelheit, bat die Götter um innere Stärke, und widmete sein Leben dem Volk. Und zur folgenden Mitternacht würde der Zyklus der Dunkelheit des Reiches abgeschlossen sein – mit der Feier der Krönung.
Kurz vor Morgengrauen trafen die Zwillinge als einer der ersten am Hafen ein – schließlich geschah es nicht alle Tage, dass der große Bruder König wurde. Sie waren mächtig stolz auf ihn. Neben ihnen blickte das ehemalige Herrscherpaar hinaus auf das Meer, als einfache Eltern in der Erwartung ihres Sohnes. Mehr und mehr Menschen strömten herbei – doch irgend etwas stimmte nicht. Im ersten Licht des Tages war die Jolle des Prinzen zu sehen. Aber: Sie trieb auf der Stelle. Schließlich ruderten die Zwillinge besorgt hinaus, gefolgt von weiteren Booten. Geneviève und Xander hatten kaum angelegt, da sprangen sie hinüber. Und blieben verdutzt auf den Planken stehen. Tondar war nicht da. Beunruhigt durchsuchten sie die Jolle, riefen nach ihrem großen Bruder. Sie fanden Blutspuren. Das Wasser wurde durchsucht. Doch der Prinz blieb verschwunden. Die Zwillinge brachten die Jolle des Bruders in den Hafen. Sie schwiegen, denn was der eine fühlte das stand auch der anderen in die Augen geschrieben. Tondar, der große Bruder, der immer da war. Tondar, der warmherzige, der jeden aufmuntern konnte. Tondar, der so stark und verlässlich war. Tondar, geliebt von allen. Was war ihm zugestoßen? In der Burg wurde lange diskutiert. Das Reich hatte die Zeit der Dunkelheit und Schutzlosigkeit betreten. Es musste heute um Mitternacht unbedingt mit der Krönung aus der Zeit der Dunkelheit heraus geführt werden. Die Zwillinge saßen geistesabwesend da und grübelten – es fühlte sich so unwirklich an. Erst als das Schweigen im Saal von einem beharrlichen Räuspern unterbrochen wurde, schauten sie auf. Sie sahen sich an, und gleichzeitig wurde ihnen klar: Die Krönung… der Prinz… Xander schluckte. Das war er.
Auf auf! Die Musiker wurden angewiesen besonders laut und lustig zu spielen. Heute war der Tag der Feier, nicht der Traurigkeit! Und ehe Xander sich versah, wurde er durch die Reihen gereicht, und hielt ein Glas in der Hand mit dem Whisky, den er selbst zur Feier seines großen Bruders vorbereitet hatte. Hände schütteln, diplomatisch und höflich parlieren, Sicherheit und Stabilität, tanzen und lächeln. Und das den ganzen Tag. Auf den Prinzen! Von Zeit zu Zeit gelang es Xander, Genevièves Blick in der Menge aufzufangen, und am späten Nachmittag befreite ihn seine Schwester mit einem gewitzten Spruch aus einer Schar Adelstöchter, in der er gerade gefangen war. Ihm war heiß, und der Lärm brandete in seinen Ohren. Geneviève kannte ihn besser als er sich selbst und sie führte ihn hinaus auf einen stillen Balkon – nicht ohne noch eine Flasche von Tondars Whisky mitzunehmen. Zusammen standen sie schweigend nebeneinander, und blickten auf Junt hinunter. Heute war keine Zeit für Befindlichkeiten, doch morgen würde sie nichts zurückhalten. Jemand rief von drinnen nach dem Prinzen. „Ich lenk‘ sie ab!“, scherzte Geneviève. Sie verschwand mit ordentlich Getöse zurück nach drinnen, und Xander stieg über das Sims an der Außenwand nach oben. Er kannte alle Wege in der Burg. Ein halboffener Erker mit Blick auf das Meer war sein Ziel. Von dort konnte er das Segelboot seines Bruders im Hafen sehen, und Musik und Stimmen waren weit weg. Mit einem Schnaufen ließ sich Xander nieder. Durch die Balken der Brüstung sah er das Meer. Und im Hafen die Segel Tondars. „Auf dich, mein Bruder!“ Er öffnete den Whisky. Ausgezeichnete Qualität. „Auf dich!“
Nie wäre Tondar freiwillig gegangen. Nie hätte dieser das Reich im Stich gelassen. Sein Reich. Er hatte sich darauf gefreut ein guter Herrscher zu sein – und er wäre ein viel besserer Herrscher als sein kleiner Bruder gewesen. Schweigend blickte Xander über Junt. Er nahm einen erneuten Schluck. Es war nicht recht, hier zu feiern, wenn sein Bruder in Schwierigkeiten war. Jeder erwartete von Xander, an die Stelle seines Bruders zu treten. Und es war ja auch seine Pflicht. …. Doch es ging alles so schnell…. Es fühlte sich falsch an. Immerhin, der Whisky war gut. Sogar exquisit. Hier würde ihn niemand finden, und seine Schwester war gut darin, die Gästeschar um den Finger zu wickeln. Bestimmt würde es dauern, bis sein Verschwinden bemerkt wurde. Und es würde den Feierlichkeiten nicht abträglich sein, wenn er ein Weilchen hier an Tondar denken würde. Und ihm gute Gedanken senden. „Auf dich!“ Schneller als gedacht war die Flasche leer. Er musste eingenickt sein, denn er wurde von Licht geblendet. Eine Gestalt kam auf ihn zu, vom Himmel herab. Die Augen schützend lugte er zu ihr hinauf.
Eigenartig – die Gestalt erinnerte ihn an… Lathander? Aber kein Lathander wie er ihn sich vorgestellt hatte, sondern lebendiger, heller. Und: Mächtiger. Seine Farben, seine Augen – alles war wahrhaftiger, und Erker und Brüstung verblassten neben ihm. Er sprach, seine Stimme war zugleich gütig und durchdringend und sanft, wie Gesang und Donner und eine frische Brise am Morgen. „Ich bin Lathander, der Herr des Morgens. Der Gott der Hoffnung und der Erneuerung.“ Xander beugte den Kopf ehrerbietig. Ein leuchtendes Schwert erschien in der Hand Lathanders. „Uns steht Chaos und Veränderung bevor. Hiermit ernenne ich dich, Xander, zu meinem Streiter des Morgenlichts. Sei die Hoffnung, wo es keine Hoffnung gibt. Sei mein Licht, wo es kein Licht gibt. Sei das Morgengrauen, und breche den neuen Tag in meinem Namen an. Knie nieder.“ Ergriffen kniete Xander sich in seinem Traum nieder. Es musste ein Traum sein. Und mit der Berührung des Schwertes auf seinen Schultern überkam ihn die Wahrhaftigkeit in einer Welle des Lichts. Für einem Augenblick sah und begriff er alles. Staunend wie ein Kind bewunderte er die Herrlichkeit, versuchte nach ihr zu greifen. Doch das Licht war zu viel, und er versank in Dunkelheit.
Möwen. Xander hörte Möwen. Und warum bewegte sich der Boden unter ihm? … und warum… seine Zunge war pelzig, und schmeckte abscheulich nach Whisky. Er öffnete mühsam ein verklebtes Auge. Und verschloss es sofort wieder, das Tageslicht schmerzte seinen Augen. Sein Kopf dröhnte. Er atmete tief ein, horchte in sich hinein. Er lag auf dem Rücken. Auf Holz. Genauer, auf Planken. Er konnte Stimmen hören. Befehle wurden gebrüllt. Seeleute. Wo war er? Vorsichtig öffnete Xander wieder die Augen. Er lag zwischen Tauen. In Armesreichweite einer Reling. Und: Ihm war schlecht. Furchtbar schlecht. Während er noch über der Reling hing, hörte er Rufe hinter sich. „Blinder Passagier!“ Mühsam wälzte er sich auf den Rücken, und blickte in die misstrauischen Gesichter zweier Seeleute. „Ins Wasser mit ihm.“ – „Oh hallo, aber die schicke Rüstung darf er da lassen!“
Rüstung? Er sah an sich hinab. Tatsächlich. Er richtete sich auf, und etwas drückte in seinem Rücken. Reflexartig griff er danach – und hielt ein Schwert in seinen Händen. Nein. Nicht ein Schwert. Das Schwert! Plötzlich hatte er den Traum wieder vor Augen. „Lathander… Herr des Morgens…“ krächzte er mit belegter Stimme. Das hielt die Seeleute zurück, und sie begannen zu tuscheln. Derjenige der ihn entdeckte hatte kam wieder auf ihn zu: „Du bist ein Omen. Nachts huschten blaue Lichter über die Segel. Wir sind nicht dumm. Die Wege der Götter kreuzen wir nicht. Gleich sind wir im Hafen – wer auch immer du bist, nimm deine Sachen und geh. Mögen die Götter mit dir sein.“
Wenig später stand Xander verkatert an einem Dock, und blickte immer wieder verunsichert auf das Schwert. Es war dasjenige aus seinem Traum – wenn es auch nicht so leuchtete. Er fasste seine Rüstung an. Beides gehörte ihm nicht. Ihm war nebelig im Kopf, und er bereute den Whisky. So oft er das Schwert auch ansah und berührte, es ging nicht weg. Er schloss die Augen. Und sah in seiner Erinnerung Lathander so lebendig vor sich, wie der Boden unter ihm und die Dockarbeiter um ihn herum echt waren. Die Leute sprachen einen seltsamen Dialekt. Er hielt den nächsten am Arm fest, „Sag mir, wer ist der neue König? Tondar? Oder Geneviève?“ „Weder noch, mein Herr.“ „Xander?“ „Nein, auch nicht.“ Kopfschütteln. „Nein, es ist Raynouard I. Whowood.“ Xander runzelte die Stirn. „Und wer war‘s vorher?“ „Na, Feche Burgh, aber der ist jetzt nur noch Provinzverwalter am Meer.“ „Wie weit weg sind wir von Junt, der Hauptstadt des Silbernen Reiches?“ „Was?“ Bald hatte Xander hunderte Fragen gestellt, und nur seltsame Blicke erreicht. Wo auch immer er war, es war weit weg von Junt, und vom Silbernen Reich. Und wo auch immer „hier“ war: Er hatte noch nie davon gehört. Es fühlte sich unwirklich an. Nur das Schwert, und die Rüstung. Das war echt.
Stirnrunzelnd fuhr er immer wieder mit den Fingern über die Einlegearbeiten am Handgriff des Schwertes. „Lathander. Herr des Morgens.“, murmelte er, und horchte in sich hinein. Es fühlte sich richtig an, wenn er das sagte. Es war kein Traum gewesen. Warum er? Und jetzt? Und warum hier? Nun ja, zumindest in einer Sache war Lathander deutlich gewesen: Er hatte Xander erwählt, und Xander hatte die Wahl angenommen, das Knie vor ihm gebeugt. Noch nie hatte er eine Bitte abgeschlagen, stets ein offenes Ohr gehabt. Aber nun war er… ein Paladin Lathanders? Nun… wer wäre er, Lathander zu verärgern… Doch was ist ein Streiter des Morgenlichts? Er sah sich um. Die Leute wirkten geschäftig, aber keineswegs niedergeschlagen. Niemand von ihnen schien offensichtlich Hoffnung zu brauchen. Zweifelnd sah er zum Himmel hinauf. „Wohin?“ fragte er den Himmel. Er griff nach einem harten Gegenstand in seiner Tasche – eine leere Whiskyflasche. Und sofort hatte er wieder den fahlen Geschmack auf der Zunge. Er wollte sie schon ins Meer werfen, da fiel ihm die Inschrift auf „Für den großartigsten König der Welt, Tondar d’Amberville.“ und steckte sie ein. Tondar. Geneviève. Das silberne Reich. Averoigne. Er würde sie wieder finden.
Die Möwen über ihm schrien, und die Sonne stand hoch. In einiger Entfernung arbeiteten Werftarbeiter an einer eindrucksvollen Galeone. Er wusste nicht, wo er war. Ihm blieben ein Brummschädel, Rüstung und Schwert. Und die Botschaft Lathanders. Er sah sich um. Wohin jetzt? Er musste den Ort finden, an dem Hoffnung gebraucht wurde. Was er sah, war aber zuallererst einmal ein befremdliches Bild. Da stand doch tatsächlich ein Gnom, bepackt mit Dutzenden von Gerätschaften über einen Brunnen gebeugt, hielt einen Kochtopf in den Schacht und klopfte mit einem kleinen Metallhammer gegen dessen Boden. Als der Topf mit einem Summen antwortete, welches durch den tiefen Schacht des Brunnens zu einem geradezu außer-weltlichen Ton anschwoll, strahlte der kleine Mann wie ein Schneekönig und fing an, vor Freude hin und her zu hüpfen. „Wo bin ich da nur hingeraten?“ Xander seufzte und steuerte auf eine gemütlich wirkende Taverne zu, wo er vorhatte, seinen Magen wieder in Ordnung zu bringen.
Ein Knilch namens Xannry
Moba, der Erleuchtete, war ein friedliebender Zeitgeist. Er sorgte sich dank seiner Begabung, mit Ob-ad-Hais Hilfe die Kräfte der Natur für sich wirken zu lassen, schon lange nicht mehr um sein Überleben. Er lebte auch schon seit Jahrzehnten in einem sicheren und friedlichen Land namens Cammere, welches durch seine unzähligen gut ausgebildeten und ausgerüsteten Krieger von keinem Nachbarn ernsthaft als Ziel eines Angriffskrieges in Betracht gezogen wurde. Dennoch war Moba nicht zufrieden. Auch wenn das von Menschen dominierte Cammere offenbar eine Ausnahme war, Nachrichten von Kriegen zwischen benachbarten Staaten, zwischen Elfen und Zwergen, ja sogar zwischen Gnomen und Menschen jenseits der Meereszunge kamen Jahr um Jahr aufs neue bei Mobas Friedensgemeinschaft an.
Dabei war es doch so einfach: Ob Menschen, Zwerge, Elfen oder Gnome, alle einer oder mehreren Sprachen mächtigen Zweibeiner hatten Augen, Nase, Mund und Ohren, was offensichtlich auf einen gemeinsamen Ursprung hindeutet. Und weil das so ist, gibt es auch keinen Grund, einander umzubringen; vielmehr sollten alle zusammen etwas Neues schaffen. In letzter Konsequenz sind Kriege völlig überflüssig und friedliches Zusammenleben zu bevorzugen. Mit diesem Leitspruch schaffte es Moba seit vielen Jahrzehnten ähnlich gesinnte Mitglieder aller bekannten Rassen in Endragon um sich zu scharen. Anfangs siedelte er noch mitten im Land, mit guten Kontakten zum gemeinen Volk und dem ein oder anderen Fürsten des Landes, aber seit der Zeit der großen Migration und der damit einhergegangenen Aufnahme von Flüchtlingen aus elfischer, zwergischer, gnomischer und gelegentlich sogar goblinscher Abstammung, wurde ihm bald klar, dass gegen die latente Fremdenangst der Menschen selbst seine gutmütigsten Erklärungsversuche aussichtslos sind und er zog sich mit seinen etwa 3000 Anhängern an den nördlichen Rand von Cammere zurück, nicht unweit vom großen Elfenwald und gründete ein Dorf, dem er den Namen Dreamlode gab, abgeleitet vom Elfischen, der Bedeutung nach: Traum(berg)bau. Und für seinen ganz persönlichen Traum predigte er weiter. Mit der Zeit und der Nähe zu den Elfenreichen, geriet seine Lehre immer stärker unter den Einfluss der in den Wäldern beheimateten Geschöpfe und es passierte auch immer öfter, dass sich neue Mitglieder nicht aus Überzeugung, sondern aus Liebe dem Dorf anschlossen.
Wo Liebe auf fruchtbaren Boden fällt, bleiben Kinder, auch solche mit Eltern verschiedener Rassen, nicht lange aus. So geschah es auch vor wenigen Jahren, dass in diesem mehr oder weniger idyllischen Dorf, falls man diese Gemeinde von so unterschiedlichen Wesen so nennen mag, auch zwei Jungen heranwuchsen, die sich gegenseitig als Brüder bezeichneten, aber nicht von der gleichen Rasse waren und auch sonst keinen gemeinsamen Elternteil hatten, auch wenn es bei einem Menschen und einem Halbelf zumindest möglich gewesen wäre. Was sie und ihre Eltern einte, war der Guru Moba, der ihnen allen klare Denkmuster und Ideen mit auf den Lebensweg gab. Da die Älteren ihre Kinder mehr oder wenig gemeinsam aufzogen, verwischte sich schnell der Begriff von verwandten Geschwistern und wurde zu etwas wie ‚Geschwistern im Geiste‘.
Die beiden Kinder hatten eine völlig unbeschwerte Kindheit, es gab zwar viel zu arbeiten, aber keine wirklichen Sorgen. Die aus den unterschiedlichsten Regionen und Kulturen stammenden Anhänger des Gurus sorgten auch dafür, dass alle recht viel Kenntnisse über unterschiedlichste Themen des Lebens vermittelt bekamen, auch wenn dies nicht in einer Schule gelehrt wurden, sondern einfach im täglichen Umgang oder durch Geschichten beim abendlichen gemeinsamen Essen.
Die beiden Kinder Xannry und Elparin Trannyth wurden nun irgendwann zu Jugendlichen, leichtsinnigen Teenagern halt. So kam es, dass sie eines Tages, wie schon so oft, die Wälder rund um das Dorf durchstreiften. Diesmal stießen sie auf einen berüsteten Reiter, der einen Halbling in Ketten mit sich schleifte. Dies verletzte ganz stark den Gerechtigkeitssinn der beiden und sie machten dem Reiter schwere Vorwürfe. Der Halbling beteuerte auch, dass er unschuldig sei und eigentlich Opfer einer Entführung. Der Reiter wollte sich allerdings auf keine Diskussion einlassen und versuchte die beiden einfach zu ignorieren. Diese Provokation konnten Xannry und Elparin natürlich nicht auf sich sitzen lassen und so warf Xannry den ersten Stein.
Zufälligerweise, nicht wegen seines Geschicks, traf dieser den Reiter an den Kopf. Falls dieser davon noch nicht bewusstlos war, dann auf jeden Fall nachdem er vom Pferd stürzte, auf den Kopf fiel und erst einmal liegen blieb. Die Gunst der Stunde nutzend, bat der Halbling die beiden Brüder ihn doch zu befreien, damit er fliehen könne. Den Wunsch erfüllten ihm die beiden natürlich, erklärten dem Halbling noch, wo ihr Dorf lag, und dass sie sich dort treffen würden.
Der Halbling machte sich auf den Weg, während die Brüder uneins waren, ob sie den Reiter einfach liegen lassen oder ihn fesseln, oder gar töten, oder doch etwas ganz anderes mit ihm anstellen sollten. Am Ende siegte ihr schlechtes Gewissen und sie blieben bei ihm; betteten ihn etwas bequemer und warteten darauf, dass er erwachte. Nach einigen Stunden fing er an zu seufzen und kurz darauf wachte er auf, griff nach seinem Schwert und sah sich erschrocken um.
„Was ist los? Wo bin ich? Wo ist der Halunke Berengar Bottomhill?“ Und mit einem an Autorität kaum zu überbietendem Gesichtsausdruck fuhr er hoch und Xannry an: „Was hast Du mit ihm getan?“ „Ich, ich …“, stammelte Xannry und Elparin warf ein: „Wir sind… es tut uns leid, aber …“ „Schweigt, ihr Dummköpfe! Ihr habt einen Staatsfeind befreit, einem Dieb zur Flucht verholfen. Und das, wo die königlichen Geldvorräte sowieso schon …“ Abrupt unterbrach sich der Reiter in seinem Wortschwall, als hätte er sich gerade auf die Zunge gebissen und zog stattdessen eine zornige Grimasse. „Ihr habt mich um fast Tausend Goldmünzen gebracht, die Raynouard auf Bottomhills Kopf ausgesetzt hatte, das werdet ihr bereuen! Von Feche Burgh bekam man für so einen Gauner noch mindestens 3000. Und dank Eurer Dummheit bekomme ich jetzt genau gar nichts!“ Danach drehte er sich wortlos um, sprang auf sein Pferd und ritt davon.
Da ihnen nichts anderes übrig blieb, machten sich die Beiden wieder auf den Rückweg, erreichten Dreamlode allerdings erst nach Sonnenuntergang. Um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen, verschoben sie ihr Treffen mit dem Halbling und Begegnungen mit anderen Dorfbewohnern auf den nächsten Morgen. Als sie mit den ersten Sonnenstrahlen erwachten, bemerkten sie eine deutliche Unruhe in der Siedlung. Es stellte sich schnell heraus, dass der kostbarste Besitz der Gemeinschaft, ein magischer Kelch, der Wasser reinigen konnte, verschwunden war.
Bei den folgenden Untersuchungen erzählten die beiden beschämt auch ihre Geschichte und es stellte sich heraus, dass tatsächlich am Vorabend ein Halbling im Dorf war und um ein Nachtlager gebeten hatte. Selbstverständlich war es ihm gewährt worden, aber in der Zwischenzeit war er schon wieder verschwunden. Genauso wie der Kelch. Die Gemeinde, natürlich empört über soviel Dummheit der Jungen, beschloss nach hitzigen Diskussionen, ob der Reiter dem Dorf auch noch Ärger machen würde, die beiden auf eine Mission zu schicken. Sie sollten sich mindestens ein Jahr vom Dorf fernhalten und den Kelch, wenn irgend möglich, wiederbringen. Und damit begann das große Abenteuer für Xannry und Elparin.
Zuerst begaben sich die beiden nach Pancras, die nächste Stadt, das erschien ihnen als logisches Ziel für einen Dieb. Während sie durch die nur flüchtig bekannten Straßen streiften, bekam Elparin Appetit auf einen der vielen Äpfel, die an den Ständen, an denen sie vorbeikamen, lagen. Ohne darüber nachzudenken griff er nach einem und biss hinein. Dies blieb natürlich nicht unbeobachtet und der Ruf nach der Stadtwache machte aus den beiden Jägern schnell Gejagte. Es gelang ihnen zwar, dank ihrer Jugend und Schnelligkeit die Verfolger abzuschütteln und sich zu verstecken, aber ihre Mission, den Kelch wiederzufinden, war jetzt erst so richtig schwierig geworden.
Also beschlossen sie, sich erst einmal zu trennen und Gras über die Sache wachsen zu lassen. Xannry sollte sich Karawanen anschließen, Elparin auf einem Schiff im Süden anheuern. Nach einem Jahr wollten sie sich in Pancras wiedertreffen, in der Hoffnung, dass dann Gras über die Sache gewachsen sei. Und so kam es, dass Xannry schon bald auf einem Planwagen Richtung Angelbury, der neuen Hauptstadt von Cammere unterwegs war, während Elparin sich über Land Richtung Turgis bewegte, wo vor nicht einmal zwei Monaten die feierliche Amtsübergabe stattfand, die Wellen bis nach Dreamlode schlug. König Feche Burgh übergibt im besten Alter sein Zepter einem aufstrebenden Adligen namens Raynouard Whowood und setzt sich als Provinzverwalter fast schon zur Ruhe. Raynouard Who? Genau. Whowood. Als nur sechs Wochen später der Hofstaat – und natürlich auch ein Großteil des stehenden Heeres, was die Königsburg gegen Feinde schützt – nach Angelbury verlegt wurde, schlugen die Wellen auch über die Landesgrenzen hinweg und die Gerüchteküche begann zu brodeln. Der König sei von einem Doppelgänger ersetzt worden, bevor er freiwillig abdankte und der neue ist ein Verräter. Raynouard Whowood sei nur ein Lakai des Königs, der die Aufmerksamkeit auf sich ziehen soll, damit Feche Burgh seinen diplomatischen Pflichten nachgehen kann, die schon seit Jahrzehnten den Frieden erhalten. Kleriker von Boccob hätten herausgefunden, es drohe ein Tsunami und dem Hof nahegelegt, die Hauptstadt am Wasser aufzugeben. Und vieles, vieles mehr.
Fakt war, dass im ganzen Land große Reisetätigkeit begann und Xannry schon wenige Tage später in Angelbury eintraf. Überall herrschte geschäftiges Treiben und auf den Straßen liefen hunderte von bewaffneten Soldaten herum, offenbar dabei, sich auf einen längeren Weg zu machen. Andere waren schon einen Schritt weiter und sammelten sich zu größeren Gruppen in Formation, um Richtung Norden aus der Stadt zu marschieren. Xannry, der außer seiner Waffe, fliegenden Gewichten, und einem kleinen Beutel mit ein paar Silbermünzen und Reisekram nichts an Wert bei sich hatte, versuchte erst einmal, eine Unterkunft zu finden, um dann mit einer anderen Reisegruppe oder Karawane weiter zu ziehen. Nachdem er sich bei ein paar Passanten erkundigt hatte, war klar, dass für sein Budget nur die Randbezirke der Stadt in Frage kommen würden und so schlenderte er durch die Menschenmassen Richtung Nordtor. Als er die ersten Schilder von Herbergen von weitem sah, traute er seinen Augen kaum.
Aus einer Türe der Taverne mit dem Namen „Zur falschen Schlange“ trat mit einem breiten Grinsen im Gesicht Berengar Bottomhill auf die Straße, erblickte Xannry, versuchte noch, umzukehren, aber stolperte über seine eigenen Füße und blieb lallend auf dem Boden liegen. Xannry zögerte keine Sekunde, schnappte sich den Hallodri und stellte ihn zur Rede. Durch Anwendung von Praktiken, die Xannry von einem Halbork gelernt hatte, erfuhr er, dass Berengar tatsächlich den Krug aus dem Dorf entwendet hatte, aber bereits wieder an einen Zwerg verloren hatte, dem er auf der Reise von Pancras nach Angelbury versucht hatte, eine Axt zu stehlen, aber dabei gescheitert war. Den Ausführungen des betrunkenen Bottomhills zufolge, denen Xannry nur wenig Glauben schenkte, hatte der Zwerg graue Haut und reagierte blitzartig auf seinen Diebstahlversuch, obwohl er ihn zuvor mit starkem Gift, das sogar schon Oger und Ettins gelähmt hatte, bedacht hatte. Bottomhill räumte ein, dass er vielleicht die Dosis zu niedrig gewählt hatte, aber das war Xannry egal.
Als aus dem lallenden Halbling nichts mehr herauszubekommen war, übergab Xannry den Wicht einem Trupp Soldaten und erhielt die versprochene Belohnung von fast 900 Goldmünzen. Nun konnte er sich auch ein Kettenhemd und einige andere Ausrüstungsgegenstände leisten, so dass er nicht mehr allein auf die Hilfe anderer zählen musste, wenn sein Weg ihn doch noch in die Ferne führen sollte.
Durrak Thorvaldsson – Zwerg!
Dreamlode, das von den Trannyth Brüdern zurückgelassene Dorf, bekam just in diesen Tagen erneut Besuch, diesmal jedoch von einem ganz und gar unerwarteten Zeitgenossen namens Durrak Thorvaldsson, einem Bergzwerg aus dem Norden. Er war auf der Suche nach einer Sekte, die laut seinen Informationen das Ende der bekannten Welt vorbereiten sollte… Aber alles der Reihe nach.
Durrak Thorvaldsson, der Sohn von Audhild und Kaldrim Thorvaldsson, wuchs in einem kleinen Zwergendorf namens Havoc auf, weit weg von der menschlichen Zivilisation, in einem Königreich namens Maenach. Da war es auch nicht verwunderlich, dass ein Großteil seiner Kindheit nicht darin bestand, Lesen und Schreiben zu lernen, sondern darin, Kampftechniken zu erlernen, wie man zeitsparend und effizient ein nahrhaftes Steppentier erlegt. Durraks Methode war aber eigentlich immer die gleiche. Mit Kampfschrei auf das Tier zustürmen und – sofern es nicht rechtzeitig das Weite suchte – mit einigen wenigen, dafür aber umso kraftvolleren, Schwerthieben dem Mittagessen kurzerhand den Garaus machen. Das klappte eigentlich fast immer, da Durrak für einen Zwerg sehr flott unterwegs war. Das meiste, was Durrak an Waffenkunst beherrschte, hatte er von seinem Vater gelernt, aber dieser war schon vor 12 Jahren auf einem winterlichen Jagdausflug zum Mondteich bei der Verfolgung einiger Polarbären auf einem Schneebrett abgerutscht und mit einer kleinen Lawine ins Wasser gestürzt und dort allem Anschein nach ertrunken. Das eiskalte Wasser ließ den Tod wenigstens sanft kommen, so erzählten es zumindest die zurückgekehrten Begleiter.
Seitdem war Durrak der Mann im Haus, da neben seiner Mutter nur noch die ältere Schwester Nanamia zur Familie gehörte. Der Verlust seines Vaters hinterließ tiefe Narben in Durraks Seele und er begann, nach spirituellen Quellen zu suchen und über einen tieferen Sinn des Lebens nachzudenken. Dies blieb seiner Mutter natürlich nicht verborgen und sie leitete ihn zaghaft, aber bestimmt in Richtung von Kord, dem Gott der Völker der Steppe, die allein basierend auf Stärke ihr Überleben immer wieder sicherstellen mussten. Trotz anfänglicher Ablehnung des – wie er es nannte – „Mädchenkrams“ wurde Durrak immer stärker von der Idee fasziniert, mit göttlicher Hilfe von Schicksalsschlägen wie dem ihm widerfahrenen in Zukunft verschont zu bleiben und er begann unbewusst, Fühler in Richtung Kord auszustrecken.
Die Kirche Kords hatte in Maenach in Gestalt von Farius Silversworn einen starken, weisen Führer, der im Zwergenreich des Nordens auch großen Einfluss besaß. Seine Kleriker begleiteten schon seit Jahrzehnten die stark frequentierten Handelsreisen zu den Elfen rund um Scanlonith und sorgten allein durch ihre Anwesenheit in den Karawanen für Schutz und Abschreckung auf der Reise durch die wilden Randländer. Die Kirche Kords war allgegenwärtig und unverzichtbar für Maenach, was sich ohne seinen starken König Oskar Ungert schon längst zu einer Theokratie gewandelt hätte. Der Hohepriester Farius Silversworn regierte fast schon wie ein König von Thulmond aus und praktisch nichts passierte ohne sein Wissen.
Als nun Durrak immer stärker die Faszination und Anziehungskraft Kords, des Gottes der Stärke, spürte, sorgte Audhild dafür, dass er in Thulmond in die klerikale Praxis eingeführt wurde. Wie es der Brauch und die Regel waren, wurde er schon bald, nachdem er sein Initiationsritual erfolgreich abgeschlossen hatte, als Begleiter der regelmäßigen Handelsreisen abgeordnet und lernte dabei schnell einige Elfen aus Mor-Elath kennen, unter anderem auch die Eltern von Imogen und Eowyn, die den Zwergen viele Langbögen und Schwerter verkauften. Aufgrund seiner Erfahrungen aus der Steppe, war Durrak oft derjenige, die die Qualität der Schwerter als erstes überprüfen sollte und tat dies auch sehr zuverlässig. Die Bögen wurden dagegen meist von den Elfen präsentiert und so stand er nicht nur einmal in lockerem Gespräch neben Imogen, die eine der Präsentationsschützen war, ohne ihr jedoch übermäßig viel Bedeutung beizumessen.
Als er sich auf seine dritte Reise vorbereitete, wurde er ausgerechnet von Farius Silversworn am Abend vor der Abreise in dessen Gemächer gerufen und bekam einen vertraulichen Auftrag, den er bei Gelegenheit ausführen sollte. Farius erklärte, dass vor einiger Zeit im Stollen eines Eisenerzbergwerks in der Nähe von Thulmond einige Schriftrollen aus historischen Zeiten aufgefunden worden waren. Es wurde vermutet, dass sie wohl zum großen Teil Überreste einer lange als besiegt und vertrieben geltenden Provinz von Dunkelzwergen sein sollten, denn auf allen Rollen lastete ein Hauch von Bösem, was Durrak nur noch stärker an Kord und dessen Botschaft von Stärke und positiver Energie glauben ließ. Als einer der Kleriker des Reiches versuchte, eine der unheilvollen Spruchrollen zu verbrennen, verselbständigte sich irgend etwas in dieser Spruchrolle und tötete den Unglücksraben. Daraufhin wurden intensive, weitreichende Forschungen angestrengt, die herausfanden, dass die sicherste Vorgehensweise, um die Magie der Rollen möglichst harmlos zu entschärfen, darin bestand, sie einfach zu aktivieren und den jeweiligen Spruch auszulösen, am besten weit weg vom Königreich und in einer Art und Weise, die möglichst wenig Gefahr für die Zwerge in Maenach darstellte.
Das war also Durraks Aufgabe: Eine der Spruchrollen zu neutralisieren. Durrak erhielt von Farius eine Spruchrolle mit einem „Tote beleben“ Zauber, der in der Lage ist, aus Leichen belebte Kreaturen zu erschaffen, die aber nicht wirklich lebten, sondern stumpf und willenlos den Befehlen ihres Erschaffers folgten. Mit ehrfürchtigem Zittern nahm Durrak die Schriftrolle an sich und versprach, den Auftrag auszuführen, ohne den anderen davon zu erzählen.
Tatsächlich ergab sich auf dieser Reise, die für Durrak die letzte zu den Elfen von Mor-Elath sein sollte, eine Gelegenheit, die so unerwartet war, dass sie Durrak beinahe nicht erkannt hätte. Aber eine Eingebung Kords kam im rechten Moment und so sprach Durrak den Spruch, als er mit seinen Begleitern schon wieder auf dem Rückweg nach Thulmond war, über zwei Leichen, die ihr Leben allem Anschein nach beim Versuch, Gutes zu tun, lassen mussten und befahl den sich erhebenden Zombies, sich zu den Diamantfällen nördlich von Mor-Elath zu begeben und dort auf ihn zu warten – bis in alle Ewigkeit.
Als Durrak seine kreative Lösung der Aufgabe Farius Silversworn berichten wollte, kam er jedoch nicht mehr dazu, denn es war etwas passiert, was das ganze Land in Aufruhr gebracht hatte. Offenbar war das Auslösen so vieler magisch miteinander verwobenen Spruchrollen in den entlegensten Gebieten doch nicht spurlos an Maenach vorüber gegangen. Alte Bergwerkstunnel, die schon lange nicht mehr aktiv bearbeitet wurden, machten plötzlich Geräusche. Es wurden aus vielen Dörfern und Städten Berichte über Sichtungen und Begegnungen mit Wesen aus der Unterwelt gemeldet. Die rapide ansteigende Zahl an Vermissten, die sich in tiefgelegenen Stollen aufgehalten hatten, machten schließlich eine drastische Reaktion erforderlich. Die Zwerge begannen, sich komplett aus den Minen zurückzuziehen und immer stärkere Festungen zu bauen. Durrak dagegen kehrte für mehrere Jahre zu seiner Mutter und Schwester zurück und lud weitere Flüchtige, darunter auch Yarin, eine charmante Seherin ein, ihn nach Havoc zu begleiten. Yarin nahm die Einladung gerne an, denn sie hatte in Durrak etwas entdeckt, was sie erschreckte, wollte aber sicher gehen, dass sie sich nicht aufgrund der turbulenten Ereignisse geirrt hatte, bevor sie es ihm verriet. Sie sollte sehr, sehr lange überlegen.
Denn zunächst hatte der Rückzug für das Zwergenvolk die erhoffte Wirkung, wenn auch um einen hohen Preis, denn ohne Erze ließ sich kein sinnvoller Handel treiben, viel Zeit wurde nun nicht mehr für die Pflege der Traditionen und Ausbau des Reiches verwendet, sondern schlicht und einfach fürs Überleben. Dennoch waren die Führer Maenachs optimistisch.
Bis sie von Yarin und ihren Visionen hörten.
Yarin hatte Durrak an einem sommerlichen Abend zur Seite genommen und von einer Vision erzählt. Eine Vision, die sie immer und immer wieder hatte, und die besonders deutlich manifestierte und auch ein besonderes Detail bekam, wenn sie sich in Durraks Nähe aufhielt. Eine ähnliche Klarheit dieser Vision hatte sie nur gehabt, als sie noch in Thulmond in Farius Silversworns Nähe ihre Magie praktizierte. Es war fast, als ob einige wenige Kleriker Kords die Vision verstärken und ihr eine persönliche Note geben konnten. Kurzum, Yarin hielt es nach fast einem Jahrzehnt für wichtig und richtig, die betroffenen Kleriker darüber zu informieren, was sie seit der Zeit des „Unheils aus dem Untergrund“ immer und immer wieder zu sehen bekam.
Irgendetwas Böses wurde vor etwa zehn Jahren geweckt. Seitdem sucht es nach Wegen, die Welt zu beeinflussen, sie ins Unheil zu stürzen. Dabei macht es vor nichts halt. Dabei werden weder Kinder noch Alte verschont. Dabei sind gerade friedliebende und nachhaltig organisierte Gemeinschaften Ziele, die dem Bösen lohnend erscheinen, für sinistre Ziele missbraucht zu werden. Das Detail, was Durraks Anwesenheit in Yarins Vision auslöste war eine Siedlung einer sektenartigen Gemeinschaft, die sich in der Nähe eines Vulkans im Süden zwischen Menschen und Elfenreich befand und ein Dorf aus Bewohnern verschiedenster Rassen unterhielt. Yarin war sich sicher, dass dort schon bald großes Unheil geschehen oder vorbereitet werden würde.
Durrak war zunächst völlig fassungslos, erinnerte sich aber bald schon an die von Farius erhaltene Schriftrolle der Dunkelzwerge und beschloss, getrieben von seinem schlechten Gewissen und einer Ahnung, dass er vielleicht das Schicksal dieses Dorfes sein würde, so schnell wie möglich dort nach dem Rechten zu sehen. Nur wenige Tage nach der Offenbarung Yarins brach er daher auf in Richtung Süden, reiste in mehreren Wochen über 1000 Meilen, dabei immer den Vulkan im Blick und fand schließlich tatsächlich ein Dorf, was den Beschreibungen Yarins sehr nahekam. Aber als er sich von den Anhöhen des Vulkans, den er für einen besseren Überblick ein Stück weit erklommen hatte, an den Abstieg machte, musste er eine schreckliche Beobachtung machen.
Eine Gruppe schwer bewaffneter Reiter, vielleicht Soldaten, näherte sich dem Dorf und machte Anstalten, wahllos Leute auf der Straße zu misshandeln, brüllte dabei herum und führte sich auf wie eine Bande Raufbolde, die zu viel getrunken hatten. Schließlich erschien ein Mann aus einem etwas abseits stehendem Gebäude, der die Gruppe ansprach. Durrak konnte natürlich nicht verstehen, was gesprochen wurde, aber die Mimik und Gestik der Beteiligten verriet, dass die Neuankömmlinge etwas zu suchen schienen, der Dorfbewohner aber zu verstehen gab, dass den Männern nicht geholfen werden konnte. Die offenbar sehr ungeduldigen Männer eskalierten jedoch die Situation nach nur wenig Diskussion und töten den Dorfbewohner, der das Dorf, wie sich später herausstellte, als Guru geleitet hatte, ohne weiteren Grund. Daraufhin brach natürlich große Unruhe unter den Bewohnern aus, die sich in blankes Entsetzen und Panik steigerte, als die Männer vor Wut über ihre erfolglose Suche begannen, Häuser zu plündern und in Brand zu stecken.
Als Durrak in der Hoffnung, vielleicht noch schlimmeres verhindern zu können, völlig abgehetzt endlich den Rand des Dorfes erreichte, waren von den meisten Häusern nur mehr schwarz verkohlte Balken und Asche übrig. Von einzelnen Rückkehrern des Dorfes, die nach verbliebenen Habseligkeiten forschten, erfuhr Durrak von dem Ereignis, was die Katastrophe vermutlich ausgelöst hatte, nämlich der Entscheidung zweier Jugendlicher, einen Halbling von seinem vermeintlichen Geiselnehmer zu befreien, dabei aber dessen Position, Macht und Gewissenlosigkeit falsch ein oder maßlos zu unterschätzen.
Durrak, der sich gut an seine Gefühle erinnerte, als sein eigener Vater von der Jagd nicht mehr zurück kam, spendete den Trauernden etwas Trost ob ihres Verlustes und erfuhr im Gegenzug, in welche Richtung die beiden Jungen das Dorf verlassen hatten. Spontan beschloss er, ihnen zu folgen und zur Rede zu stellen, denn er war überzeugt, dass dieses Dorf kein größeres Unheil mehr anrichten würde.
Da die Jugendlichen erst vor wenigen Tagen das Dorf in Richtung Westen verlassen hatten, war es anfangs nicht besonders schwierig, ihrer Spur zu folgen. Sie führte über Pancras nach Angelbury und dann nach Norden. Auf dem ganzen Weg fielen Durrak große Truppenbewegungen auf, die ihm etwas befremdlich erschienen. Aber die Soldaten ignorierten ihn und so ignorierte er sie auch und kam recht gut voran. Doch die Spur des Jungen hatte sich dann doch irgendwie verloren. War er bis in die Elfenlanden weitergereist? Oder doch wieder umgekehrt, ob der Massen an Militär, die inzwischen auf der Straße unterwegs waren? Abbudhide, eine Kleinstadt ungefähr eine Tagesreise nördlich von Angelbury, war allein durch die Soldaten, die in der Nähe auch Camps aufgeschlagen hatten, um mehr als das Doppelte gewachsen. Durraks Fragen nach einem Jungen mit fliegenden Gewichten wurden nur mit Achselzucken beantwortet, dafür hörte er Gerüchte von brennenden Dörfern. Und einem Waldbrand. Könnte das das Werk des Jungen sein? Egal. Auf jeden Fall hatten diese Ereignisse das Potential, ein großes Unheil heraufzubeschwören. Genau so, wie es in Yarins Visionen angedeutet worden war. Genau dort wurde er sicher gebraucht.
Parlierender Gnom und Gnädiger Paladin
Zurgin hatte den ausführlich untersuchten Topf gerade in die Taverne zurückgebracht, als ihm ein stattlicher Mann auffiel, der mitten am helllichten Nachmittag Rollmops aß. Außerdem trug er ein Schwert, was so auffallend blinkte und blitzte, dass er es einfach abklopfen musste. Mit dem Hörrohr im Anschlag holte er bereits aus, als ihn eine kräftige Hand an der Ausführung des Schlages hinderte. „Was machst Du da?“ Die Stimme Xanders klingelte in Zurgins Ohren, aber er war sich so sicher, dass das Schwert einen entscheidenden Hinweis auf die Sphärenharmonie liefern würde. Er stammelte „Ich, äh, ich … dieses Schwert. Wo ist das her? Das sieht ja noch besser aus als … als das Elfenschwert, was ich schon vor Jahren untersuchen durfte, aber dann leider die falsche Abzweigung nahm.“
Xander erkannte in Zurgin den Gnom wieder der zuvor am Brunnen gestanden hatte und bat ihn, sich erst einmal zu setzen. Zurgin fügte sich, da er sich von dem Schwert magisch – so würden es zumindest diejenigen nennen, die an Magie glaubten, aber das war ja alles großer Humbug – angezogen fühlte, aber im Moment konnte er den imposanten Krieger mit dem Schwert und der glänzenden Rüstung wenig entgegensetzen, also fragte er ihn, wie er hieß und wo er herkäme. „Mein Name ist Xander Maël Luc d`Amberville aus Averoigne, und Du?“ Zurgin stutzte. Er war schon weit herumgekommen, aber von Averoigne oder Leuten, die sich „von Bernstein“ nennen, hatte er noch nie gehört. An diesem Xander musste er unbedingt dranbleiben. „Äh, ich bin, ich heiße Zurgin Ceramiel Tupp…“ „Stopp, stopp, stopp. Zurgin reicht mir. Woher stammst Du?“ „Aus Kythera! Allerdings habe ich derzeit keine Ahnung wo Kythera ist, außer, dass sie ein Leuchtturm der Moderne war.“ „War?“ „Ja, sie musste aufgrund einer Verquickung unglücklicher Umstände zeitweilig aufgegeben werden. Aber ich werde sie finden und die Akademie wieder eröffnen. Willst Du vielleicht Mitglied werden?“ „Was?“ „Mitglied! Mitglied der Akademie von Kythera“ „Mitglied einer noch gar nicht existierenden Akademie einer verschollenen Gemeinde? Nein, danke. Aber sag mal, wenn da eine ganze Stadt einfach so aufgegeben werden musste, dann waren da doch bestimmt einige ziemlich verzweifelt, oder? Ich bin nämlich hier, um Licht ins Dunkel, Hoffnung in die Seelen der Verzweifelten…“ „Stopp, stopp, stopp. Ich hab‘s verstanden.“ „Ich glaube, ich würde Dir suchen helfen.“ Xander hatte einen ersten Anhaltspunkt gefunden. Auch wenn die Verzweiflung schon einige Zeit her sein musste, möglicherweise war sie ja im Laufe der Jahre sogar noch angewachsen und jetzt hatte sie den Punkt erreicht, wo Lathander der Meinung war, seinen Streiter dorthin schicken zu müssen.
So fügte sich eins zum anderen und Zurgin und Xander, die sich trotz ihrer völlig unterschiedlichen Agenden, aber dennoch ähnlicher Lebensumstände auf eine seltsame Weise vertraut vorkamen, plauderten fröhlich den Rest des Tages weiter. So erfuhr Xander, dass Zurgin lange Zeit mit seinen Eltern durch die Lande gezogen war und daher viel Wissen über Endragon angesammelt hatte; Zurgin dagegen war begeistert von der Aussicht, durch Xander, der sehr offensichtlich nicht aus irgendeiner Provinz der dem Gnom bekannten Lande stammte, die Möglichkeit zu bekommen, erneut fremde Metalle und weitere Ideen für seine Theorie zu erhalten. Selbst in der Theologie, wo Xander aufgrund seiner Berufung einen Wissensvorsprung annahm, kannte Zurgin sich bestens aus, war er doch die längste Zeit des letzten Jahres, kurz bevor er aufbrach, seine Harmonietheorie zu begründen, in einem Heironeous Tempel in Findern, im Westen Cammeres zusammen mit seinen Eltern angestellt und lernte dort auch viel über das Pantheon und die sogenannte Magie der Götter.
Die Anstellung war kein Zufall gewesen, denn die Kleriker des Tempels hatten gerade festgestellt, dass ihnen bestimmte Tricks nicht mehr gelangen. So konnte selbst der Hohepriester sich nicht mehr durch Gebete die Stärke Heironeous zu eigen machen und auch die Strafe Heironeous, die in Form von Feuer und göttlicher Macht auf feindliche Truppen herabregnen konnte, war nicht mehr zu bewerkstelligen. Genau da konnten jedoch Zurgins Eltern weiterhelfen. Denn Magie war ja so oder so nur die geschickte Anwendung von mechanischen Absonderlichkeiten und demnach war es nur eine Frage der Zeit, bis der Tempel wieder sämtliche Wunder, die das Volk gewohnt war, bewerkstelligen konnte. Und feindliche Armeen kamen gar nicht erst auf falsche Gedanken, denn Gerüchten zufolge war auch in den Nachbarländern göttliche Kriegsmagie auf seltsame Art und Weise einfach verschwunden.
Zurgins Eltern blühten nach den ersten Erfolgen zu wahren Meisterbastlern auf. Zu ihren größten Errungenschaften gehörten: die dampfgetriebenen Tempelpforten, der funkensprühende Altar, das Negativbild auf dem Grabtuch des Heiligen Huma, die Heiligen-scheinwerferanlage, die verbesserte Beräucherungsanlage, die vollautomatische Wasserorgel und vieles mehr. Kurz, sie hatten einen Ort geschaffen, der ideal für Zurgin war, einen Geistesblitz zu haben.
Nach Ausübung seiner kirchlichen Pflichten lauschte Zurgin während des Gottesdienstes den Klängen der neuartigen progressiv-automatischen Orgel der Mutter. In jenem Augenblick, die Augen auf die Geometrie des Tempeloberbaus und auf das Lichtspiel der prächtigen Fenster gerichtet, erkannte er die Zusammenhänge des Universums: Die akustische Kopplung der himmlischen Sphären aneinander, der Aufbau der Materie vom kleinsten Staubkorn, das wie eine Saite schwingt, bis zum Orchester eines Berges, dass Blitze und Donnergrollen Aspekte gleicher ursprünglicher Schwingungen sind. Die ganze Welt wird von Akustik zusammengehalten und wer das versteht kann sie mit den rechten Tönen bewegen. Letztlich geht es nur darum, die rechten Schwingungen zu finden und mit ihnen direkt die Sphären zu beeinflussen. Genau das hatte Zurgin sich seit dem schicksalshaften Tag im letzten Frühling vorgenommen. Endlich mittels der universalen Akustik das Universum vernünftig und vorhersehbar zu manipulieren und auf gefährlichen Aberglauben wie Magie zu verzichten.
Seit etwa einem halben Jahr war Zurgin schon unterwegs von Ost nach West, Süd nach Nord, hatte dabei auch schon viel entdeckt, aber kam nur langsam voran, denn Reisen war und ist schon immer gefährlich und Söldner, die das Reisen etwas sicherer machen können, sind teuer, daher waren immer wieder Zwangspausen einzulegen, die Zurgin nutzte, um neue Gerätschaften zu bauen, die er für gutes Geld an Tempel oder senile Magier verkaufen konnte, um davon die nächsten Legionäre bezahlen zu können und eine neue Ecke Endragons zu besuchen. Sein nächstes Ziel war der Vulkan Mount Jade im Nordosten des Landes. Er hatte ihn bereits auf seiner Reise nach Süden entdeckt, war aber mittellos nicht tollkühn genug, sich dort hin ohne Begleitung zu begeben. Nun aber hatte er vielleicht einen freiwilligen Begleiter gefunden.
Als er Xander die Option einer Reise anbot, war dieser ganz und gar nicht abgeneigt. Schließlich wusste dieser einfach noch viel zu wenig von diesem Endragon, also war ihm die Kameradschaft Zurgins eher eine Hilfe, als eine Last und er willigte schnell ein. Zur Feier des Tages bestellte Zurgin zwei Gläser Wein, die er dann aber selbst trinken musste, da Xander auf Wasser auswich. „Nein, mein Freund. Alkohol kommt mir die nächste Zeit nicht in die Kehle. Den Fehler mache ich so schnell nicht noch einmal.“ Etwas konsterniert, aber angesichts der Möglichkeit, ein interessantes Forschungsobjekt und einen kampferprobten Begleiter in ein und derselben Person gefunden zu haben, verkniff sich Zurgin die Frage nach dem warum und stieß – zum ersten Mal in seinem Leben – mit seinem Weinglas ein Wasserglas an und prostete seinem Gegenüber fröhlich zu.
Tags darauf brachen beide auf in Richtung Norden.
Im Wald da sind die Elfen…
Nach einem Tag der Erholung ohne ständiges Bangen und Hoffen, dass die Häscher endlich von ihnen abgelassen hatten, und einer weiteren, deutlich ruhigeren Nacht, erkundeten Imogen und Eowyn ihre Lage. In Rhunath hatte man inzwischen von nicht nur einem, sondern mehreren ausgebrannten grenznahen Dörfern gehört. Überall so gut wie keine Überlebenden. Dazu passte wie die Faust aufs Auge, dass schon seit Wochen große Truppenbewegungen im benachbarten menschlichen Königreich Cammere stattfanden und jetzt ergab es auch irgendwie Sinn, dass vor einer guten Woche eine Dutzendschaft Holzfäller und Holzfällerinnen begonnen hatte, Schneisen in den Elfenwald nördlich von Lark, zu schlagen. Nach nur zwei Tagen war zwar dieser Spuk wieder vorbei, dennoch war die Lage ungewöhnlich unübersichtlich, so dass König Morvanatt Laois von Rhunath, der Hauptstadt des Elfenkönigreiches Anraii, beschloss, zaghaft aktiv zu werden und sämtliche zu Aufklärungszwecken geeigneten Elfen in der Stadt in die Kaserne einberief.
Während Eowyn bereits vorsichtig Kontakte zum Hof geknüpft hatte, war Imogen dank ihrer Waffenfertigkeiten als Bogenschützin bei der Stadtwache mit Kusshand genommen worden und durfte sich an ihrem ersten Tag in Lohn und Brot dank der aktuellen Ereignisse sofort bei der Kaserne melden. Nach nur wenigen einführenden Worten befand sie sich am Nachmittag bereits in einem gut ausgerüsteten fünfzehn Personen umfassenden Spähtrupp, davon drei Frauen, auf dem Weg nach Lairelotath, unterwegs mit der Aufgabe, näheres über die Kahlschlagaktion vor etwa zwei Wochen herauszufinden.
Auf dem Weg dorthin, erfuhr sie einiges über die Moral in der bewaffneten Elfentruppe, die wohl einige hunderttausende über das ganze Reich verstreut umfasste, die offiziell unter Waffen stehen. Obwohl zum Glück schon lange kein Krieg mehr die Reiche berührt hatte, schienen fast alle, auch die seit kurzem ausgebildeten Soldaten, ganz genau zu wissen, dass Kriege immer von Elfen gewonnen werden und ausschließlich der Verteidigung dienten. Auch stand für deutlich mehr als die Hälfte des Trupps schon vor Ankunft im Zielgebiet fest, dass die Holzfäller zum einen natürlich Menschen waren, zum anderen es ganz bestimmt auf die alten hundertjährigen Eichen der Gegend um Jinnathi herum abgesehen hatten und allein schon deshalb den Tod verdient hätten.
Bis zur Ankunft in Lairelotath hatte sich der Trupp so in Rage geredet, dass es nur mehr eine Frage von Tagen und nicht mehr Wochen oder gar Monaten zu sein schien, bis Morvanatt den grausamen Cammerern den Krieg erklären musste oder ganz klar der falsche König für die Elfen von Anraii sei. Als Imogen einwarf, dass doch noch gar nichts herausgefunden worden war, strafte man sie mit bösen Blicken und gab ihr für den nächsten Tag trotz oder gerade wegen ihrer von da an schweigsamen Haltung, die Aufgabe der Speerspitze, also des spähenden Vorauslaufens, mitunter die gefährlichste Position in einer solchen Einheit.
Am nächsten Tag zogen acht der fünfzehn, Imogen war eine von ihnen, von Lairelotath los in Richtung Lark, die zweite Gruppe sollte später folgen. Imogen wurde immer wieder mehrere hundert Fuß vorneweg geschickt, um die Truppe über wichtige Hindernisse oder gar Gefahren auf dem Laufenden zu halten. Geschickt wie sie war, fiel ihr das auch nicht besonders schwer, hatte jedoch von Mal zu Mal mehr den Eindruck, dass manche in ihren Reihen ihren Auftrag nicht besonders ernst nahmen und auch nicht im Entferntesten glaubten, dass irgendeine Gefahr für sie bestünde.
Es musste wohl der zehnte oder elfte Spähgang von Imogen gewesen sein, als sie die Lichtung entdeckte, die nach frisch geschlagenem Holz roch. Hier mussten vor wenigen Tagen Holzfäller in der Tat beim Fällen wunderbarer, alter Bäume … holla … überrascht worden sein! Die Lichtung, der sich Imogen nun näherte, war nicht geordnet verlassen worden. Die Spuren, die sie sofort las, wie ein Buch, erzählten eine völlig andere Geschichte. Dann sah sie auch einen Pfeil in einem Baum stecken, der bereits den Hieb einer Axt zu spüren bekommen hatte. Hier war eindeutig ein Überfall passiert. Die Überfallenen hatten wohl teilweise versucht, zu fliehen, aber mindestens fünf von ihnen waren bei ihrer Flucht kopfüber auf den Boden gefallen, drei weitere waren erst gar nicht dazu gekommen, wegzulaufen. Schleifspuren zeugten ferner von einem Beseitigen der vermutlich getöteten Menschen. Ob es Überlebende gab, war für Imogen nicht mehr zu erkennen. Imogen war sich aber sicher, dass der Überfall ohne Vorwarnung geschah, was allein schon ungewöhnlich war, aber auch die Pfeile, die sie fand, stammten nicht aus der nahen Umgebung. Schon eher aus ihrer ersten Heimat Ganiedii, aber das ergab erst Recht keinen Sinn.
Verwirrt wandte sie sich zum Rückzug, um den anderen Bericht zu erstatten und legte den Weg etwas gedankenverloren und wenig aufmerksam zurück. Erst als sie in kurzer Entfernung eine Gestalt auf dem Boden liegen sah, die einen Pfeil im Rücken hatte, wurde sie hellwach. Gleich daneben lag noch eine und da noch eine. Es waren alles Leute aus dem Spähtrupp, die wohl in einen Hinterhalt, den sie, Imogen, nicht erkannt hatte, geraten waren. Nach kurzem, ungläubigem Verharren hörte sie aus der Ferne die zweite Gruppe sich dem Ort nähern. Während sie versteckt abwartete, fiel ihr auf, dass die Pfeile, die aus der kompletten ersten Gruppe nur sie verschont hatten, ihren Pfeilen, die sie in Syldreathi erworben hatte, in allen relevanten Details glichen, es hätten glatt die ihren sein können. Als sie erkannte, dass auch die zweite Gruppe die Toten bereits entdeckt hatte, hielt sie einen Moment inne. Wie sah die Situation für die Neuankömmlinge aus? Weit und breit keine anderen Bogenschützen außer Imogen zu sehen und das letzte, an was sich die Elfen sicher erinnerten, war, dass Imogen die Menschen in Schutz genommen hatte. In der zweiten Gruppe waren auch ausgerechnet die drei dabei, die tags zuvor schon das Wort geführt hatten und sich als eifernde Anhänger der Schnelljustiz verraten hatten. Wenn Imogen diesen jetzt unter die Augen trat, war sie einem sicheren Tod geweiht.
Aber die ganze Gruppe hinterhältig genau so zu töten, wie es der ersten Gruppe allem Anschein nach widerfahren war, war extrem riskant, da diese nun bereits vorgewarnt war. Außerdem wäre eine solche Tat jeglicher Überzeugung, die Imogen durch ihre Eltern und aus den Erfahrungen ihres bisherigen Lebens gewonnen hatte, zuwider gewesen. Daher blieb ihr nur eine Wahl.
Rückzug und Flucht nach Süden, denn auch in Rhunath würden schon bald Nachrichten einer verräterischen Elfe, die mit den Menschen gemeinsame Sache macht, die Runde machen. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, den oder die Täter oder klare Beweise dafür zu finden, wer die Morde im Grenzgebiet tatsächlich begangen hatte, um sich selbst rein zu waschen. Und dazu musste sie versuchen, Überlebende des Überfalls zu finden. Mit großem Unbehagen, was sie erwarten würde, machte sie sich auf nach Lark, der ersten Stadt südlich der Grenze, die den Namen Stadt verdient.
Verzwergte und verzwickte Missionen
Xannry wusste überhaupt nicht, wie er seine Mission, den magischen Kelch wiederzubeschaffen, anpacken sollte. Wie sollte er einen Zwerg finden, von dem er lediglich wusste, dass er vor einigen Tagen irgendwo zwischen Pancras und Angelbury unterwegs gewesen sein musste? Doch wie der Zufall¹ es wollte, überhörte er Teile eines Gesprächs zweier Soldaten, die gerade aus dem Norden zurückgekehrt waren und über einen Zwerg redeten, der, so verstand er es, wohl auf dem Weg nach Lark sei, obwohl die Soldaten versucht hatten, ihm selbigen auszureden. Als dieser aber von Auftrag, Schicksal und Visionen gesprochen hatte, hatten es die Männer hatten nach einiger Zeit aufgegeben, ihm von den Gefahren, die sich derzeit in der Grenzregion auftaten, zu erzählen, nickten nur noch und wünschten ihm das nötige Glück, das dieser Kelch an ihm vorübergehen möge. Xannry verstand nur „Zwerg“, „Kelch“, „Vision“ und „Lark“ und war auch schon unterwegs. Er reiste einen Tag und eine Nacht fast ohne Unterbrechung und erreichte gegen Mittag des zweiten Tages die grenznahe Kleinstadt Lark, in der sich in den letzten Tagen die freien Bettenzahl der an sich üppig ausgestatteten Unterkünfte in freiem Fall befand. Erschöpft und enttäuscht, den erwarteten Zwerg nicht gleich zu treffen, begab er sich erst einmal in die städtische Taverne „Zum furchtlosen Zwerg“, die ihm als empfehlenswert genannt worden war, als er nach Unterkunft mit Verpflegung fragte. Verpflegung war auch kein Problem, aber ein Bett für die Nacht konnte man ihm nicht mehr anbieten, da alles restlos ausgebucht war. Bis zum Abend dufte er sich auch Nachfrage hin jedoch in einem Zimmer ausruhen, das für den Befehlshaber der örtlichen Kompanie reserviert und im Voraus bezahlt worden war. Dieses Angebot ließ sich Xannry nicht ein zweites Mal machen und verschwand flugs im Obergeschoss.
¹ = bzw. der DM
Durrak wunderte sich nun nicht mehr so sehr über die vielen Soldaten, denn es war ihm klar geworden, dass erst kürzlich geschehene Ereignisse eine Kettenreaktion ausgelöst hatten. Ihm war völlig schleierhaft, wer den ersten Stein geworfen hatte, aber offenbar wurden auf beiden Seiten, bei Elfen und bei Menschen, bereits viele Tote und Vermisste betrauert und die Gerüchteküche war in vollem Gange. Es war ihm klar, dass ohne ein diplomatisch geschicktes Einschreiten in kürzester Zeit, eine Eskalation in vollem Gange sein würde. Das Dogma der reinen Lehre Kords, „Die Starken und Gesunden sollen die Schwachen anführen, Mut ist die Tugend eines jeden Führers, Feigheit soll verachtet werden,“ war zunächst einmal kein Grund, Kriege grundsätzlich zu ächten. Dennoch hatte Durrak die Ahnung, dass es ihn nicht ohne tiefere Bedeutung in diese von seiner Heimat so weit entfernte Gegend verschlagen hatte. Was also tun? Durrak beschloss, zunächst keine Partei zu ergreifen und erst einmal Kontakt mit den unmittelbar Betroffenen, also den Bürgern Larks, aufzunehmen und steuerte eine seiner Meinung gut zu ihm passende Taverne mitten in Lark an.
Xander und Zurgin hatten in der Zwischenzeit Angelbury erreicht, wo sie einen kompletten Tag Pause von ihrer Reise einlegten und stattdessen die Annehmlichkeiten einer Bewirtung und eines Badehauses genossen. Xander hatte dank Zurgin nun schon ein paar sehr einschlägige Berichte und ein bisschen Landesgeschichte gehört und hatte einen guten Überblick über die Herzlande und die Völker der weiter entlegenen Gegenden bekommen. An dem reisefreien Tag ließ er zum ersten Mal seit langem sein Ohr wieder einmal von dem kleinen Gnom ab, der dringendst in der Herberge seine Gerätschaften vom Staub der Straße befreien wollte, und hörte sich auf der Straße um. Was er da an Neuigkeiten aus dem Norden erfuhr, ließ ihn sofort wieder an Lathanders Botschaft denken. „Bring Licht zu den Verzweifelten, bring Hoffnung zu denen im Dunkeln.“ Und die Nachrichten, die sich wie Lauffeuer ausbreiteten, waren tatsächlich zum Verzweifeln. Xander fasste seinen Entschluss sehr schnell und sehr klar. Er musste ins Grenzgebiet, um dort den Menschen und den Elfen Hoffnung auf bessere Zeiten zu bringen und dann diese Zeiten beibringen oder zumindest alles in seiner Macht stehende dafür tun, dass die Auswirkungen der lokalen Meinungsverschiedenheiten zwischen Elfen und Menschen nicht Leid und Unglück über beide Länder brachten, sondern möglichst glimpflich wieder beigelegt werden konnten.
Dabei kam er zwar in einen kleinen Konflikt mit dem Versprechen, was er Zurgin ob dessen Vulkanreise und der Suche nach Kythera gegeben hatte, aber er musste abwägen zwischen einem fröhlichen, unbeschwert vor sich hin lebenden Gnom, der unter Umständen eine verschollene und aufgegebene Gemeinde mit ehemals weniger als 250 Seelen wieder finden würde, gegen eine Bedrohung, die konkret war und bereits jetzt tausende Elfen und Menschen betraf. Für den Halbelfen Xander d’Amberville war die Richtung völlig klar. Er teilte Zurgin seine Planänderung noch am selben Abend mit und bot ihm an, sich in einem Monat wieder mit ihm zu treffen, aber Zurgin kam ebenfalls ins Grübeln und willigte nach kurzem Überlegen ein, seinen Vulkanbesuch noch eine Weile aufzuschieben, um weiter mit Xander zu reisen.
So kam es, dass diese beiden wenige Tage später ebenfalls in Lark eintrafen.
Startschuss
Als der erste Pfeil in die Buche einschlug, die Yue Fei Lian gerade mit ihrer Axt bearbeitete, war noch in keinster Weise zu erahnen, welche Folgen sich aus diesem Startschuss entwickeln sollten. Da alle anderen fast gleichzeitig abgefeuerten Pfeile ihre Ziele trafen, war die bis dato angenehme Waldluft innerhalb kürzester Zeit von Schmerzens- und Todesschreien und wenig später auch von Blutgeruch erfüllt. Als Yue Fei sich nach Deckung suchend vom Baum abwandte, sah sie aus den Augenwinkeln die Angreifer. Mindestens ein halbes Dutzend Langohren mit kampferprobter Schnelligkeit spannte neue Pfeile auf ihre Bögen und drohte, nachdem die erste Salve bereits mehrere der anderen Holzarbeiter niedergestreckt hatte, auch dem Rest aus dem Schatten heraus schnell den Garaus zu machen. Da hatte Yue Fei ein Deja-Vu Erlebnis.
Mit voller Wucht kamen die verdrängten Gefühle, die Yue Fei schon einmal zu erleiden hatte, wieder an die Oberfläche. Damals war Yue Fei, eine neugierige, aufgeweckte junge Frau, ebenfalls in Begleitung anderer beim Holzhacken unterwegs und gerade mit Hilfe zweier kleiner Handäxte auf einen Baum geklettert, als plötzlich ein wild gewordenes Dutzend Braunbären über den Waldboden rannte und ihre elf Mönchskollegen und -kolleginnen niedermetzelte. Nachdem alle tot waren und die Bären sich beruhigt hatten, zischten Pfeile durch den Wald und trafen die Bären. Zwei dutzend Wilderer waren hinter den Bären her, die sie hier zusammen getrieben hatten und nun wollten sie deren Felle und Fleisch verwerten. Als sie gerade dabei waren die Bären auszunehmen, zischten jedoch weitere Pfeile durch den Wald und trafen die Wilderer. Eine Gruppe von Elfen hatte die Wilderer auf frischer Tat ertappt und machte kurzen Prozess mit ihnen. Yue Fei beobachtete das alles voller Schrecken aus großer Höhe zwischen den Ästen und harrte noch die darauf folgende Nacht gut versteckt auf dem Baum aus. Erst am nächsten Vormittag wagte sie sich hinunter. Sie nahm sich eine Axt und ein Seil mit und lief zurück zum Kloster.
Dort allerdings hatte es die Nacht über gebrannt. Die Hälfte der Mönche hatte Tags zuvor das Kloster verlassen und war in Richtung der Stadt Lark unterwegs, um dort Vorräte für den nahenden Winter einzukaufen. Den Moment des für eine Nacht so gut wie schutzlosen Klosters hatten sich unbekannte Angreifer zu Nutze gemacht und es mit brennenden Pfeilen niedergebrannt. Yue Fei wanderte unter Schock durch die noch rauchende Ruine und nahm geistesabwesend ein paar Waffen und andere Ausrüstungsgegenstände an sich, bevor sie schluchzend auf dem noch warmen Boden zusammensackte.
Das Kloster, was sie seit ihrem vierten Lebensjahr ihr Zuhause nannte, dort, wo sie, als ihre Mutter sie nicht mehr brauchen konnte, die Mönche und deren Lebensweise kennen und achten lernte, die Mönche, die nicht einmal 36 Stunden zuvor wilden Bären zum Opfer gefallen waren und ihr die Kunst der Gebetsmeditation nahegebracht hatten, war Schutt und Asche. Anfangs hatte sie ja die Bewegungsübungen der Mönche noch für Tanzformen gehalten, welche sie mit ungebremstem Enthusiasmus nachahmte und ausübte, aber schon mit sechs Jahren nahm man sie wegen ihrem Talent für außergewöhnliche Körperbeherrschung ins Kampftraining auf und so erlernte sie schnell die Grundlagen der waffenlosen Kampfkunst und einige nur Mönchen bekannte Formen und Stile der bewaffneten Auseinandersetzung. Sie begann sich schnell damit zu identifizieren. Einhergehend mit der Meditation gewann nicht nur ihr Körper, sondern auch ihr Geist ungeahntes Potential. Im Alter von 16 Jahren war sie ein vollwertiges Mitglied der Mönchsgemeinschaft. Mit dem niedergebrannten Kloster hatte dieser Lebensabschnitt jedoch ein jähes Ende gefunden. Nun hatte Yue Fei keinen Ort mehr, an dem sie Schutz suchen oder Hilfe finden konnte.
Ihr erster Gedanke war, die alte Hütte ihrer Mutter aufzusuchen, aber dann kamen ihr Zweifel. Dort war sie schon seit acht Jahren nicht mehr gewesen. Dennoch, auch weil ihr nichts anderes einfiel, wagte sie die Wanderung durch die Wildnis im Glauben, allen Gefahren gegenüber wehrhaft genug zu sein und erreichte nach wenigen Stunden die etwa sechs Meilen vom Kloster entfernte Hütte außerhalb ihres Heimatdorfes Alredridge. Die wenigen Tausend Seelen in dem Grenzdorf hatten von dem Brand nichts mitbekommen und Yue Fei brauchte ein wenig, um sich zurecht zu finden. Nach kurzem Suchen jedoch erinnerte sie sich an den Weg zur ihrer Geburtsstätte.
Als sie die Tür öffnete kam ihr ein modriger und würziger Duft entgegen, den sie aus frühester Kindheit kannte, doch der Anblick der Innenausstattung verlieh ihr eine Gänsehaut. Rundherum war die Hütte zugestellt mit Gläsern, Töpfen, toten und skelettierten Tieren, Tinkturen, Apparaturen und Devotionalien. Dies war entweder die falsche Hütte oder ihre Mutter hatte sich einst ein sehr zweifelhaftes Hobby gesucht. Die Hütte schien zudem seit langem verlassen und es waren keinerlei Schriftstücke wie ein Abschiedsbrief oder dergleichen zu finden. Lediglich ein paar Bücher mit kryptischen Zeichnungen, Schriftzeichen und Runen. Ein Buch fühlte sich merkwürdig warm an, als hätte es neben dem offenen Feuer am Kamin gelegen. Aber um nicht auch noch als Dieb oder schlimmerem gezeichnet zu werden, beließ sie alles, was sie vorfand, wie es war.
Schnell war ihr klar, dass sie auch hier nicht die Geborgenheit finden würde, die sie gerade bitter nötig hatte und machte sich auf in Richtung Lark, denn dort gab es wenigstens noch ein paar bekannte Gesichter, die vielleicht ein paar tröstende Worte für sie übrig haben würden.
In der Tat fand sie dort Unterstützung und sogar Arbeit. Denn wie durch einen Zufall¹ hatte König Raynouard I. beschlossen, seine Flotte, die im Moment aus nur zwei Schiffen bestand, von denen eines zur Reparatur in der Werft lag, zu erweitern, um neben den Landesgrenzen auch die Seewege besser gegen mögliche Feinde abzusichern. Um Schiffe zu bauen, brauchte man Holz und so wurden Holzfäller gesucht. Yue Fei brauchte sowohl Geld, um sich ein eigenständiges Leben ohne Kloster leisten zu können, als auch Ablenkung von den Ereignissen der vergangenen Tage, daher nahm sie das Angebot der lokalen Bezirksverwaltung gerne an. Kost und Logis plus Spesen und Prämien für jedes Ster Holz klangen fair und auch die Gebiete, in denen die Rodung von den Elfen erlaubt worden war, waren bereits auf Karten eingezeichnet. Bereits am nächsten Tag hatte Yue Fei Arbeit. Am übernächsten Tag rannte sie um ihr Leben.
¹auf Wunsch des DM
Zum furchtlosen Zwerg
Als Durrak die Klinke zur Gaststube des „furchtlosen Zwergen“ drückte, fiel sein Blick auf eine Elfe, die sich anschickte, ebenfalls die Taverne zu besuchen. Auf den zweiten Blick kam sie ihm sogar bekannt vor. ‘Aber klar, das war Imogen, die Tochter des Bürgermeisters von – wie hieß das Dorf nochmal, mit dem sie bis kurz vor dem Ereignis, das die Schrecken der Unterwelt erweckte, rege Handel getrieben hatten, richtig: – von Mor-Elath.‘ Auch Imogen erinnerte sich gleich an ihr letztes Mal, als sie in ihrem Heimatdorf der Zwergenabordnung aus Thulmond die Qualität der Bögen demonstrieren sollte. Durrak war Teil der Zwergen-Delegation, machte aber damals auf sie den Eindruck, als wäre er gar nicht richtig bei der Sache, sondern mit seinen Gedanken ganz wo anders. Nun traf sie ihn nach all den Jahren hier wieder, mitten in einer Gegend, wo ein Dorf nach dem anderen den Flammen zum Opfer fällt und Menschen und Elfen wenig gute Worte füreinander übrig haben. Ausgerechnet einen Zwerg! Trotzdem freute sie sich, genauso wie Durrak, über ein bekanntes Gesicht in einer unbekannten Gegend und beide begannen bereits auf dem Weg hinein in die Gaststube, alte Geschichten aufzuwärmen.
Im warmen Lokal saßen bereits Xander und Zurgin bei einer großen Portion Eintopf, als Xannry sein Weinglas, das er seit mehr als einer Stunde regelmäßig wieder befüllen ließ, absetzte und einen so lauten Seufzer von sich gab, dass Xander der Löffel aus der Hand fiel und er einen sorgenvollen Blick Richtung Theke warf, von wo aus die jämmerliche, quasi hoffnungslos wirkende Gestalt von Xannry den Lathander-Paladin wie ein Magnet anzog. Sofort stand Xander auf und eilte zu seinem Objekt der Sorge, während fast gleichzeitig Zurgin aus den Augenwinkeln heraus Imogen erkannte und gleich freudestrahlend seinen Hammer zückte. „Hallo mein Freund, Du wirkst aber ziemlich hoffnungslos, wenn ich das einmal so sagen darf.“ „Ja, wie, was? Ist ja kein Wunder, nachdem, was ich erlebt habe auf meiner bisherigen Reise.“ „Wieso, was ist Dir widerfahren?“
Xannry, der schon etwas benebelt war vom vielen Wein, der bekanntlich auch Zungen lockert, erzählte daraufhin mit schwankender Stimme, wie er die Verfolgung eines Diebes namens Berengar Bottomhill aufgenommen hatte und ihm fast die ganze Strecke vom Vulkan Mount Jade aus über Dutzende Meilen hinterher geeilt war. Obwohl er ihn in Angelbury aufbringen konnte, war er dennoch in seiner Mission gescheitert, da der Übeltäter Bottomhill die Beute, die Xannry in sein Heimatdorf zurückbringen wollte, bereits wieder an einen nebulösen, angeblich gräulichen Zwerg verloren hatte. Über dessen Verweilen hatte Xannry trotz des Erwerbs eines imposanten Großschwerts und der damit noch überzeugenderen Argumentation immer noch keine Informationen ergattern können.
Durrak wurde aber wegen der Geschichte, die in der Kneipe kaum zu überhören war, ebenfalls in das Gespräch gezogen und gab Xannry sofort die Schuld an dem Vorfall, der das Dorf, was er ja aus einiger Entfernung beobachten konnte, in Schutt und Asche legte und einige der Dorfbewohner, allen voran den Ältesten, dem Tode geweiht hatte. Xannry, der vom Schicksal seines Heimatdorfes bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung gehabt hatte, bot nun endgültig einen völlig verzweifelten Anblick und konnte sich der Anteilnahme und Unterstützung von Xander in jedem Fall sicher sein, der erneut einen Grund erkannte, warum er von Lathander gerade hierher geschickt worden war. Ein Ausweiten der Suche nach diesem Zwerg ließ sich auch gut mit den Plänen Xanders verbinden, der sich vorgenommen hatte, die in der Region entstehenden Unruhen so schnell wie möglich wieder zu beruhigen.
Kurzum, nach einigen Minuten saßen alle fünf um einen Tisch und tauschten sich rege aus, wobei nun auch Imogen öfter zu Wort kam, die unter all den schicksalshaften Geschichten die besorgniserregendste beizutragen hatte. Und sie hatte auch gleich noch eine Theorie dazu, die nichts Gutes verheißen ließ.
